Was sie sagte - 14. Oktober 2011

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    Was sie sagte - 14. Oktober 2011

    Die Situation glich einem Traum. Ilka fühlte sich außerhalb der Realität, unfähig, ihre Gedanken laut werden zu lassen, unfähig, irgendetwas am Geschehen zu ändern. Sie erinnerte sich nur noch dunkel daran, wie es überhaupt hierzu gekommen war.

    Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorbei, aber sie war sich nicht so sicher, ob sie wesentlich mehr mit ihr zu tun hatten, als ein unbeteiligter Beobachter mit diesen streiflichtartigen Momentaufnahmen zu tun gehabt hätte.

    Dunkelheit und Nebel waren um sie herum. Ab und zu Lichter, kaum erkennbar. Weit fort … Nicht greifbar, vielleicht nicht einmal wirklich vorhanden. Unergründlich wie das Universum.

    Kaum wurde ihr bewußt, daß sie unterwegs war, daß sie langsam durch die kalte Nacht spazierte, daß sie ihren Umhang fester um sich zog.

    Gedanken …

    "Was genau hat sie denn gesagt?"

    Schweigen …

    Die Nachtluft, so kalt sie auch war, konnte die Düsternis und den Nebel in Ilkas Kopf nicht lüften. Als ob da noch ein Hindernis wäre, eine Barriere, ja, eine unsichtbare Mauer, die sie weder durchdringen noch umgehen konnte.

    "Ich habe deutlich den Namen Ilka gehört. Es ist jemand, der Dich erkannt hat. Es ist eine Frau. Sie freut sich, daß Du hier bist …"


    Die Worte des Mediums blieben unterbewußt. Kometen zogen mit irrsinnigem Tempo an Ilka vorbei. Sie waren laut. Ilka bemerkte es kaum. Ihr Weg war glatt und gerade, leicht zu gehen, und sie ging. Langsam, schlafwandlerisch sicher, wie im Traum.

    Sehr weit entfernt brach eine Frau in Tränen aus.

    Ilka wußte nicht mehr, wie oft sie schon diese seltsamen Versammlungen besucht hatte, zu denen eine Arbeitskollegin sie irgendwann einmal mitgeschleppt hatte. Ein Medium würde Stimmen aus weiter Ferne empfangen, die sonst niemand hören könne, hatte sie gesagt. Viele Leute gingen dorthin, und alle gaben dem Medium Geld. Viel Geld. Auch Ilka, obwohl sie es sich kaum mehr leisten konnte. Die Versammlungen waren teuer. Aber das Medium sagte, daß es als Ausgleich für diesen ganzen Energiefluß viel Nahrung und Wellness brauche, und das sei nun mal sehr teuer. Und die Leute zahlten mit Freuden, weil sie gern von den Leuten hören wollten, die nicht mehr bei ihnen weilten. Auch Ilka. Auch wenn von ihrem Vermögen kaum noch etwas übrig war.

    Lärm flog mit einem ungeheuren Lichtblitz durch die Dunkelheit und direkt an ihr vorbei. Es machte ihr nichts aus. Sie reagierte nicht einmal.

    "Ich hatte Kontakt", sagte eine Frau unter Tränen, "ich hatte Kontakt, aber die Verbindung war zu schwach, und sie konnten mich nicht richtig hören …"

    Das Medium hatte Ilka unendlich traurig angeblickt … Tief in Ilkas Unterbewußtsein schlummerte der Eindruck, daß dieser Blick ihr nur zu bekannt war. Es war ein Gedanke, der sie nur so zart und schwach berührte wie das weit entfernte Klingen zweier Gläser beim Zuprosten. Vielleicht hatte das Medium damals schon den Tod von Ilkas Arbeitskollegin vorausgesehen. Diese Trauer im Blick …

    "Ich kann es nicht richtig hören … die Verbindung ist zu schwach … ich weiß nicht, was sie sagte …"


    Ilka war bei Pflegeeltern aufgewachsen, weil in den Wirren nach der Großen Katastrophe viele Menschen gestorben und auch eine ganze Menge Menschen ausgewandert waren. Was mit ihren richtigen Eltern passiert war, wußte Ilka nicht. Ilkas Pflegemutter hatte manchmal geflüstert – wenn der Pflegevater nicht zuhause gewesen war – daß Ilkas Eltern wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden weilten. Die Katastrophe und die Jahre der Not danach … So viele Leute, die die Pflegeeltern gekannt hatten, hatten diese schwierige Zeit nicht überlebt. Ilka hatte keinen Grund zu der Annahme, daß ihre Eltern noch leben könnten. Sie hatten sich nie um sie gekümmert, sie hatten sich nie bei ihr gemeldet. Für Ilka waren sie tot.

    Ihre Kollegin, so wußte Ilka, war auch ein Pflegekind gewesen. Auch sie war, wie Ilka, bei Leuten aufgewachsen, die genügend Platz, Zeit und Geld hatten, um sich neben ihren eigenen auch noch um fremde Kinder zu kümmern. Der Neue Staat begrüßte und förderte es reichlich, wenn man Waisen oder doch mutmaßliche Waisen bei sich zuhause aufnahm und bereit war, sie so zu lieben und genauso zu behandeln wie eigene Kinder.

    Abrupt blieb Ilka stehen und nahm ihre Umgebung wieder wahr. Ihr stockte der Atem.

    Trauer … Armut …

    Das Wort 'Verbindung' setzte sich plötzlich in ihrem Kopf fest und ließ sich nicht mehr vertreiben.

    Ihre Kollegin, so wußte Ilka, war vor wenigen Wochen verunglückt …

    "Es tut mir leid … ich kann die Verbindung nicht wiederherstellen …"


    Ilka sah an sich hinunter. Ihre Kleidung war mattschwarz. Und schmutzig. Wieso mußte sie gerade an einen Straßenfeger denken? Dieser Beruf wurde bereits seit vielen, vielen Jahren nicht mehr von Menschen ausgeübt … Sie merkte, daß sie zitterte. Sie wickelte sich noch fester in ihren Umhang. In weiter Ferne schimmerte ein Licht, das sich zu nähern schien, aber wärmer wurde ihr davon nicht. Im Gegenteil, ein eher mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit.

    Sehr weit entfernt fragte eine ältere Frau verzweifelt, wieso es so schwierig war, die näheren Umstände um den Verbleib ihrer Familie zu erfahren.

    Das heller werdende Licht und das sich nähernde, lauter werdende Geräusch – Ilka bekam Angst – es schien sich um eine Warnung zu handeln. Sie ließ sich fallen und rollte nach links.

    "Es tut mir leid, Ilka, ich bin mir nicht sicher, was sie sagte … meine Energie läßt nach … ich kann die Verbindung nicht mehr aufrechterhalten …"


    Etwas ähnliches hatte das Medium auch zu ihrer Kollegin gesagt. Die hatte schon einen Kredit aufgenommen. Ilka hatte gleich gewußt, daß ihre Kollegin diesen nicht würde zurückzahlen können. Aber sie wollte doch unbedingt Botschaften von ihrer Familie hören … Botschaften aus dem Jenseits … Ilka überlegte bereits, ob sie den gleichen Schritt gehen sollte. Und dann hatte das Medium ihre Kollegin so traurig angeschaut.

    Jubelnd und weinend gleichzeitig zeigte eine ältere Frau in einem sehr weit entfernten Land ihrem Mann einen Brief.

    Licht und Lärm rasten mit atemberaubender Geschwindigkeit an Ilka vorbei. Ilka spürte den Luftzug. Der kalte Schweiß brach ihr aus.

    "Du mußt jetzt stark sein … Die Verbindung war sehr schwach und hielt auch nicht lange … aber ich habe Deinen Namen gehört … sie sagte, ihr würdet bald beieinander sein …"


    Eine Freundin der älteren Frau sagte: "Beeile Dich … Dort geht etwas vor, das nicht geheuer ist …" Die Freundin schaute die Frau unendlich traurig an …

    Ilka hatte sich erhoben und festgestellt, daß sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo sie hingeraten war und wie das geschehen sein konnte.

    "Ich habe sie nicht rechtzeitig gesehen, ich schwörs, sie stand einfach plötzlich da in ihren schwarzen Klamotten, und ich konnte nicht mehr ausweichen …"


    Ein trauriger, aber sehr aufmerksamer Blick. "Ilka, ich konnte nicht alles ganz genau hören, was sie sagten, aber Deine Eltern wollen anscheinend, daß Du zu ihnen gehst …"

    Auch Jahre später hatte sie noch Schwierigkeiten, alle Geschehnisse zu rekonstruieren, aber ihre Eltern und die Mutter ihrer Kollegin halfen ihr, wo sie nur konnten. Außerhalb des Neuen Staates ließ sich leider nichts gegen die Frauen unternehmen, die als Medien auftraten und leichtgläubigen jungen Menschen das Geld aus der Tasche zogen. Ein Arzt im neuen Heimatland ihrer Eltern hatte herausgefunden, daß Ilka systematisch unter Drogen gesetzt worden war. Ilka war noch glimpflich davongekommen; sie war noch nicht überschuldet wie manch anderer, der den Medien geglaubt hatte. Sie war den Weg in ein besseres Jenseits, den das Medium immer nur angedeutet hatte, nicht zu Ende gegangen.

    Die Medien hatten nur deshalb solche Macht über die Menschen gewinnen können, weil sie die einzigen waren, die im Neuen Staat – außer Regierungsmitarbeitern – an Telefone oder Funkgeräte herankamen, weshalb Ilkas Mutter vermutete, daß die Medien selbst aus den Reihen der Regierung kämen oder zumindest von dort aus rekrutiert würden. Die jungen Menschen wußten nicht mehr, daß die schwachen Stimmen, die aus diesen Geräten zu hören waren, nichts mit Übersinnlichem oder Magie zu tun hatten, sondern lediglich mit ausgefeilter Technik. Lautstärkeregler und Geräuschgeneratoren sorgten dafür, daß Worte wie 'die Energie läßt nach' oder 'die Verbindung ist zu schwach' mehr Gewicht bekamen. Den Medien wurde geglaubt, weil niemand sich die Technik erklären konnte. Und einige Medien schienen soweit zu gehen, daß sie ihre Klienten systematisch in den Untergang führten, wenn kein Geld mehr da war …

    Zumindest reimten Ilka und ihre Familie – auch ein älterer Bruder war wieder aufgetaucht – es sich später so zusammen. Ihre neue Heimat ermöglichte allen Einwohnern den Zugang zu Telekommunikation, und zumindest vor Medien wie im Neuen Staat war man dort sicher.